Das zweite Türchen öffnet sich und ich erzähl eine Geschichte aus meiner Geburtsstadt Nürnberg.
]Die Geschichte des Nürnberger Zwetschgenmännlas[
Keinem Besucher des Nürnberger Christkindlesmarktes dürften die vielen Zwetschgenmännla, welche in verschiedenen Buden käuflich erworben werden können, verborgen bleiben. Die kleinen Männchen bestehen aus Dörrzwetschgen und sind mittlerweile in mehr als 350 verschiedenen Variationen erhältlich. Doch woher kommt die Idee der kleinen Zwetschgenmännchen – oder, wie die Nürnberger sagen, der Zwetschgenmännla?
Bei einem Zwetschgenmännla handelt es sich um eine aus Draht gefertigte kleine Puppe, welche hauptsächlich aus Dörrzwetschgen, dürrem Obst und kleinen holzgeschnitzten Teilen besteht.
Erfindung durch einen Drahtzieher[
Unterhalb des Laufertors lebte in einem alten Wehrturm ein alter Mann, der Drahtzieher war. Die Wehrtürme wurden um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert inklusive Mauer abgerissen.
Der Drahtzieher hatte in dem Wehrturm insgesamt drei kleine Kammern, welche übereinander lagen. Die Küche mit einem großen Dörrofen war in der untersten, die Werkstatt und Wohnstube in der mittleren und die Schlafstube mit Abstellkammer in der obersten Kammer. Der Mann lebte in armen Verhältnissen, da er mit seinem Drahtzug nur ein geringes Einkommen erzielte. Trotz seiner armen Lebensverhältnisse waren seine Kammern immer reinlich geputzt und die Leute, allen voran die Kinder, kamen aufgrund seiner freundlichen Art gerne zu ihm. So manche lustige Geschichte hatte er parat, welche er den Kindern erzählte. Als Dank sangen die Kinder ihm dafür Lieder.
Das Wehrtürmchen, in dem der alte Mann lebte, stand am Hang eines Grabens. Hier wuchsen einige Birnen- und Zwetschgenbäume. Die Bäume hatten zwar verkrüppelte Stämme und dürre Äste, trugen jedoch im Herbst immer die besten Früchte, sodass der Mann immer eine reichliche Ernte hatte. Er verstand es, das Beste aus der doch bescheidenen Obsternte herauszuholen. Da es um den kleinen Wehrturm zu gewissen Zeiten ziemlich stark und süßlich roch, vermutete man, dass er heimlich aus einem Teil seiner Zwetschgen Schnaps gebrannt hatte. Aber nicht nur Schnaps, sondern auch die „Hutzeln“, was in Nürnberg der Ausdruck von schmackhaftem Dörrobst ist, verstand er hervorragend in seiner dunklen Küche zuzubereiten. Vor allem in Kombination mit Kartoffelbrei waren diese Hutzeln ein Festmahl.
Nach einem zu Ende gehenden kühlen Sommer wurde der alte Mann einmal sehr krank und lag einsam und verlassen in seinem Bett in der obersten Kammer seines Wehrturms. Er wartete nur noch auf sein Ableben. Eines Abends, als es ihm besonders schlecht ging, hörte er die Nachbarskinder, welche ihm von außen einen Choral sangen. Genau diesen Choral liebte und hörte er sehr gerne. In dem Choral wurden die Menschen zum Glauben und zur Hoffnung aufgerufen. Sie wurden an Gottes Hilfe und daran erinnert, dass der Herrgott alle Macht über Leben und Tod hat.
Als der alte kranke Mann den Choral hörte, spürte er, wie er neue Lebenskraft bekam und die Hoffnung zurückgekehrt ist. Er fing an, innig zu Gott zu beten und wurde schon nach einigen Wochen wieder gesund, sodass er wieder seiner täglichen Arbeit am Drahtzug nachgehen konnte.
Er glaubte fest daran, dass die Kinder ihm durch den Choral die Genesung geschenkt hatten und war ihnen sehr dankbar. Einige Wochen vor Weihnachten hatte er daher den seltsamen Einfall, einfache Gestelle aus Draht zu formen, welche wie Menschen gestaltet waren. Von seinen Krüppelbäumen steckte er auf diese Gestelle die gedörrten Zwetschgen. Hübsche Spitzhüte aus Papier setzte er seinen „Zwetschgenmännchen“ als einzigen Schmuck auf.
Die Nachbarskinder waren über die Zwetschgenmännchen, welche sie von dem Alten zu Weihnachten geschenkt bekamen, hoch erfreut. Als Dank sangen sie ihm am Heiligen Abend wieder fromme Lieder vor. Die Freude über die Zwetschgenmännchen war bei den Kindern so groß, dass sie sich künftig zu jedem Weihnachtsfest solche Figuren wünschten. Und so hatte der alte Mann immer zu Winterbeginn reichlich zu tun, die Zwetschgenmänner zu basteln. Mit der Zeit wurden die dunklen Männchen in ganz Nürnberg bekannt und beliebt. Daher hatte es sich für ihn sogar gelohnt, auf dem Nürnberger Christkindlesmarkt eine eigene kleine Bude aufzumachen, um seine Zwetschgenmännla zu verkaufen.
Der Verkauf von Zwetschgenmännchen auf dem Nürnberger Christkindlesmarkt ist bis heute geblieben. Der Weihnachtsmarkt wäre ohne die Zwetschgenmännla-Buden unvorstellbar. Jahr für Jahr werden reichlich Zwetschgenmännla verkauft, welche ihre Reise sogar bis ins Ausland antreten. Doch selten wird danach gefragt, wie Nürnberg zu seinen Zwetschgenmännchen kommt und wer diese erfunden hat. Der Name des alten Drahtziehers und Zwetschgenmännla-Erfinders ist leider nicht mehr bekannt.
Der alte Drahtzieher wurde mit zunehmendem Alter ein alter, wackliger Greis. Da er immer mehr wie eine Hutzel geschrumpft ist, nannten ihn die Einheimischen nur noch den „Zwetschgenmoh vom Laffer Türmla“. Aus dieser Zeit ist der Ausdruck „a Hutzldada“ oder „klahns Zwetschgenmännla“ bei den Nürnbergern noch heute ein Synonym für ein kleines, dürres Männlein.
Eine besinnliche Adentszeit wünscht Traudl
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