Unruhen in Bosnien und Herzegowina

Suncokret

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Komischerweise hört man im Mainstream nichts davon.
Nur 'ne winzige Anmerkung dazu: sowohl der von dir verlinkte Beitrag (Urfassung english http://www.theguardian.com/commentisfree/2014/feb/17/bosnia-terrifying-picture-of-europe-future ) als auch der von mir verlinkte (diepresse.com) waren in "Mainstream"-Medien zu lesen.

Was leider weder im Mainstream noch in den alternativen Medien übertragen wird, sind die "plenum"-Veranstaltungen selbst. In Sarajevo gibt es viele sehr gute Dolmetscherinnen, die bei allen möglichen politischen Stiftungen, Goethe-Institut etc. angestellt sind. Wenn die einfach mal die Redebeiträge in deutsche Sprache übersetzen und kommentarlos z.B. per Internet veröffentlichen würden, wäre das "ein vorsichtiges Gießen", wie ich es mir vorstelle.
 

Suncokret

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Ich kopiere hier mal Auszüge aus einem persönlichen Brief:
"Die Plenums sind ausser den täglichen Protesten in mehreren Städten in Bosnien und Herzegowina, also auch in Banja Luka und auch in Mostar, die sichtbarste Art und Weise, wie die BürgerInnen ihren Widerstand zeigen. Noch immer, 2 Wochen seit dem Beginn der Proteste, ist die friedliche humorvolle Atmosphaere unter den Menschen vorhanden. Sie ist an vielen Einzelheiten erkennbar. So hat ein junger Mann sich in die Reihe von Polizisten gestellt. Die Polizisten mit Schutzschildern ausgerüstet, er zwischen ihnen mit dem handgezeichneten Herz auf dem A 5-Blatt in der Hand, das er vor sich hält. Oder eine junge Frau, die gefragt wurde, warum sie weint. Sie antwortet, sie weine, da sie gesehen habe, wie auch ein Polizist geweint hat.
Die Demonstrierenden tragen und verteilen gelbe Streifen. Es ist ihr Zeichen, dass alle gleich sind. Es ist ein Versuch, sich gegen die nationalpolitische Interpretation der Proteste zu wehren. Eine andere Art ist, alle drei Fahnen (die bosnische gelb/blaue, kroatische mit weissroten Quadraten und die serbische mit vier C) zusammengebunden zu tragen.
Die Plenums können wir per Internet verfolgen. Es sind bis mehr als 2 Stunden dauernde Sitzungen, an denen hunderte BürgerInnen teilnehmen. Es sind einige der wenigen Orte in der ganzen Region, an denen die Teilnehmenden mit Bürger und Bürgerinnen, also in beiden Geschlechtern angesprochen werden. Diese gendersensible Art zu reden gilt auch fuer andere Orte, wo die Demonstrierenden sich melden. Es ist ein Indikator von der Struktur der Bevoelkerung, die bis jetzt in den Widerstandsgruppen das Sagen haben. Es ist m. E. wichtig zu notieren, denn oft ist Gendersensibilisiertsein eine der ersten Sache, die nach der Revolution schnell in Vergessenheit geraet.
Die Prinzipien des Plenums sind: Gleichberechtigung, Solidaritaet und Gewaltfreiheit. Wieder sind also Plenums einer der sonderbaren Orte in der Region, an denen ausdrücklich Gewaltfreiheit gefördert, verlangt wird. Plenums arbeiten in Arbeitsgruppen (Zwischenstaedtische Kooperation, Medien, Juristische Fragen, Redaktion der Buergerbeschwerden/ Anfragen an die Regierung, Protestorganisation). Solche Organisation im Modell der direkten Demokratie kennen wir aus den vergangenen Studentenprotesten in Kroatien. Diese Organisation funktioniert auf dem Balkan, trotz des Misstrauens, das am lautesten von den Medien (Journalisten, Philosophen) und aus den politischen Parteien geaeussert wird. Die Zeitungsartikel sind nicht einseitig, aber m.E. ist die Sensibilitaet fuer den friedlichen, gewaltfreien Widerstand bei den Meinungsbildnern in den Medien schwach. Ausser den nationalistischen Spins sind hier jene, die eine Entschlossenheit in Form der Gewalt befuerworten. Denn, so ihre Argumentation, es sei „die einzige Sprache, die die politische Oligarchie versteht“. Solche Gewaltunterstützung macht mir Sorgen, ihre Analysen sind gefährlich und ich finde, man soll wie immer man kann, die gewaltfreie Art und friedliche Widerstandsformen unterstützen. Diese Bitte richte ich auch an Dich/Euch.
Es waere so schade, die friedliche Bewegung in Bosnien durch so m.E. unverantwortliches Benehmen zu verhindern. Hier scheint mir, dass die Radikalisierung von der linken wie auch rechten Seite droht. Das heisst, dass auch diejenigen, die in den 90er Jahren sich gegen den Krieg einsetzten und heute fuer die Menschenrechte eintreten, sich verlaufen und fuer die Methode der Gewalt eintreten. Es ist eine Gefahr, denn die Leute in Sarajevo sind muede und fuer schnelle Endloesungen leicht empfänglich. Ich bin traurig, wenn ich von meinen FreundInnen hoere, wie sie auch nah an der Zerstoerungsloesung sind. Von meiner Seite sind es meistens die patriarchalen Macho-Modelle (die Artikel werden vorwiegend von Männern im Diskurs starker Polemik, Ironie, Anschuldigungen geschrieben). Ich bin besorgt, denn dieser Diskurs ist Kriegssprache, schwach an Dialogannaeherung, ohne Empathie, aber mit viel Schwarz-Weiss Malerei, in der immer wir die Guten bleiben.
Die Verlierer, die Opfer von Gewalt werden nicht die starkmäuligen Schreiber sein, sondern immer die einfachen Menschen auf den Strassen. Aber heute ist es nicht einfach von hier aus den Menschen zu zeigen, dass am Ende die Gewinner der Gewalt immer die Machthaber sind.
Mit diesem Brief will ich Dich / Euch wach halten fuer etwas Wunderbares, was in Bosnien und Herzegowina passiert. Es ist der aufrichtiger Gang dieser Menschen, die unter der Missstaenden seit dem Krieg gelitten haben. Wenn du willst, kannst du sie dabei unterstützen, nicht zur Gewalt zu greifen.
Ich glaube, es ist wichtig, dass sie sich nicht allein fuehlen. Und es ist wichtig, so erinnere ich mich an die Kriegszeit, dass die Umgebung die Gewalt nicht billigt. Zuhoeren und Empathie zeigen ist fuer mein Verstaendnis der erste Schritt, um Respekt zu zeigen. Dann aber kann die klare gewaltfreie Position hilfreich sein, fuer die Zukunft, die Bosnien und Herzegowina verdient."
 
A

AlterNeuer

Guest
Hallo Suncokret,

und nochmals DANKE für diesen Beitrag.
Er ergänzt das hervorragend, was auch in dem von mir gesetzten tlaxcala- Link steht.
Ich hoffe von ganzem Herzen für diese Menschen, dass es bei dieser Gewaltfreiheit bleibt.

Gruß
AlterNeuer
 
M

Marius

Guest
Danke, Suncokret für diese Übersetzung, es rührt mich immer wieder, wenn Menschen es schaffen - sei es auch für einen kurzen Moment - in einander nicht nur ihre Nationalität oder Religion zu sehen.
Der Mensch ist so viel mehr, als nur diese Äußerlichkeiten, die er sich obendrein noch ncihtmal selbst ausgesucht hat.

Auf welche Art von Unterstützung und Beistand bezieht sich der Schreiber des Briefes?
 

Suncokret

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Ja, das Publizieren und Weiterverbreiten ist eine Form der Unterstützung. Mal bei den Freunden in BiH anrufen, SMS schicken oder mailen, kommt sehr gut an. Marius, hattest du nicht geschrieben, dass du über Ostern nach BiH fahren willst? Das ist auch eine Art von Unterstützung. Und nachher hier davon erzählen ...
 
M

Marius

Guest
Ja, ich soll mir das Haus meines Cousins angucken, er hat da einiges renoviert, während ich immer sagte, dass er doch verrückt sei.
Naja, ganz konkret habe ich gesagt, dass ich noch nie so einen Schmarrn aus seinem Kopf fallen gesehen habe und dass er das Geld gleich auch verbrennen hätte können. Jetzt will er, dass ich gefälligst meine Aussagen zurück ziehe, mal schauen :)

Ich habe leider meine ganz eigene Sicht auf Bosnien solange die Leute ständig auf ihren Nationalstolz beharren, das hat noch niemanden weiter gebracht, im Gegenteil. Aber wenn das so ist, wie in dem Brief geschildert und die Bewegung breit genug aufgestellt ist, dann könnte das ja noch was werden, jedoch da fällt es sogar mir schwer optimistisch zu sein, und das will was heißen. :-(
 

Suncokret

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Wenn dein Cousin ähnliche Prägungen wie du erfahren hat, wird er ja nicht von der nacionalistischsten Seite aus denken.
"... solange die Leute ständig auf ihren Nationalstolz beharren" - mein Eindruck von solchen Leuten ist bisher, dass ihnen wenig bewusst ist, worauf sie denn wirklich, persönlich, stolz sein können. Der Nationalstolz füllt dann diese Lücke und verringert durch die damit verbundenen urigen Gemeinschaftsgefühle auch noch Einsamkeit, Traurigkeit, Scham und andere schmerzhafte Gefühle. Ich wünsche dir jedenfalls gute menschliche Erfahrungen in BiH und ein bisschen von dem "bosnischen Frühling".
 
M

Marius

Guest
Suncokret, du bist mir sehr sympathisch, wenn ich das mal anmerken darf.

Das wird man ja wohl noch sagen dürfen! ;-)
 

Suncokret

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"Sarajevo Accepts Protesters’ ‘Expert Government’ Demand: The cantonal assembly in the Bosnian capital has accepted demands from a ‘citizens’ plenum’ to form a government of experts and to take action to limit officials’ financial privileges."
http://www.balkaninsight.com/en/article/bosnia-protests-continue-as-plenums-voice-demands

"Politicians in Bosnia have been trying to stir up bad memories of the 1990s conflict in a bid to undermine and discredit the nationwide protests against economic hardship and corruption."
http://www.balkaninsight.com/en/article/war-on-the-bosnian-protests

"I and other observers came away the most recent Sarajevo plenum on Friday night, February 21st, impressed by the organization, the management, and the general disposition of the wide range of citizens attending."
http://www.balkaninsight.com/en/blog/how-bosnia-s-protest-movement-can-become-truly-transformative
 

claus-juergen

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hallo,

im Zusammenhang mit der katastrophalen Wirtschaftslage im Land möchte ich noch erwähnen, daß es dort kein Agrarministerium gibt. dieses wäre für ein Agrarland besonders wichtig, weil in der Folge auch keine Stelle die Agrarprodukte zertifizieren kann. nur eine solche Zertifizierung berechtigt zum Export beispielsweise in die EU. Somit kann das Land nirgendwohin weder Kartoffeln, noch Gemüse oder Blumen exportieren. Die EU ist ein bedeutender Importeur von landwirtschaftlichen Produkten. Es bestehen gegenseitige Abkommen mit Afrikanischen wie auch Asiatischen und Amerikanischen Staaten, die es diesen Ländern ermöglichen, ihre Agrarprodukte auf den EU-Markt zu bringen.

Eine nennenswerte Industrie gibt es im übrigen in Bosnien-Herzegowina nicht mehr.

Grüsse

Jürgen
 

Suncokret

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Ehrlich gesagt habe ich in BiH außer der Mini-Landwirtschaft zur Eigenversorgung bisher keine größeren landwirtschaftlichen Betriebe gesehen. Einzige Ausnahme: Obst- und Gemüseanbau in Teilen der Herzegowina. Ein Teil der Ernte ging nach Kroatien (ich weiß nicht, ob das jetzt nach dem EU-Beitritt Kroatiens noch geht).
 
A

AlterNeuer

Guest
Aber wenn das so ist, wie in dem Brief geschildert und die Bewegung breit genug aufgestellt ist, dann könnte das ja noch was werden, jedoch da fällt es sogar mir schwer optimistisch zu sein, und das will was heißen. :-(
Hm, na ja, den Menschen muss es eben offenbar nur dreckig genug gehen. Dann finden sie scheinbar sogar trotz aller Unterschiede zusammen.
Uns geht es, so gesehen, viel zu gut.
Insofern ist diese Situation dort für mich äusserst interessant.

Marius, Du siehst, es gibt durchaus Situationen wo ich vielleicht sogar optimistischer bin als Du.:D

Gruß
AlterNeuer
 

Suncokret

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Ich habe noch ein paar Daten recherchiert zur Landwirtschaft. Dabei fand ich, dass es sowohl in der Föderation ein Ministerium gibt: Ministry Of Agriculture, Water-Management And Forestry http://www.fbihvlada.gov.ba/english/ministarstva/poljoprivreda.php als auch in der Republika Srpska: http://www.voders.org/index.php/ministarstvo/ministarstvo-poljopivrede-sumarstva-i-vodoprivrede

Zur Struktur der Landwirtschaft zwei Zitate:
"(...) most farms are small scale family subsistence units delivering any surpluses to neighbours or local markets as shown by the data in Table 2. More than 66% of farms have less than three hectares. The average size of a household farm is about 3.0 hectares divided into 8 to 10 plots. (...) Almost all food products are imported, above all wheat, meat products, dairy products and fruit juices. This is not a new situation since the farming sector was not able to satisfy domestic demand before the conflict. However, the trade deficit in agricultural and food products has grown." http://www.fao.org/ag/AGP/AGPC/doc/Counprof/Bosnia_Herzegovina/Bosnia_Herzegovina.htm

"The structural of agriculture is sector is characterised by small sized family farms which to large extent produce for home consumption – over 50% of agriculture holdings are estimated to be less than 2 ha; the state firms, generally much larger, are mostly not operating or in difficulties often due to not finalized state of privatisation." http://ec.europa.eu/agriculture/enlargement/countries/bosnia_herzegovina/profile_en.pdf

Hier mal ein nicht untypisches Bild, aufgenommen bei meinem Besuch in BiH im vergangenen Jahr:
Den Anhang 19754 betrachten Der junge Mann hinter dem Pferd ist der Sohn meiner Gastgeberin. Er ist schwer kriegstraumatisiert, bekommt aber keine Rente oder ähnliches. Auf dem Topf im Vordergrund kocht seine Mutter eine köstliche Hagebuttenmarmelade, die sie an die Verwandschaft im Ausland verkauft.
 

claus-juergen

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...
im Zusammenhang mit der katastrophalen Wirtschaftslage im Land möchte ich noch erwähnen, daß es dort kein Agrarministerium gibt...

hallo suncocret,

meine info stammt aus der print-ausgabe der süddeutschen zeitung aus der letzten woche. Tatsächlich wird darin dargelegt, daß die EU bestimmte Vorgaben für Lebensmittel verlangt, die mangels einer Zertifizierungstelle und eines dafür zuständigen Ministeriums nicht erbracht werden können. damit gibt es keinen Export, auch nicht wie vor dem EU-Beitritt ins Nachbarland Kroatien.

Grüsse

Jürgen
 

Suncokret

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Ja, die Süddeutsche hat Recht. Die EU fordert ein gesamtstaatliches bosnisches Ministerium. Eigentlich ein Wunder, dass bei der bekannten Neigung zur Schaffung von Ministerstellen samt Privilegien da immer noch nix passiert ist.
 

Suncokret

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"Am Mittwoch finden in der bosnischen Stadt Tuzla, wo die Proteste vor drei Wochen begannen, Demonstrationen statt. Die Bosnier, die aus dem ganzen Land kommen, wollen vor der Staatsanwaltschaft protestieren, um diese aufzufordern, endlich jenen Privatisierungsfällen von Firmen nachzugehen, die seit Jahren stocken. Die Polizei ist in höchster Alarmbereitschaft. Auch Wasserwerfer sollten in die Stadt geholt werden." http://derstandard.at/1392686390233/Tuzla-Neue-Proteste-erwartet
Der Artikel beschreibt weitere Probleme der Protestbewegung in Tuzla.
 
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